Im deutschen Gesundheitswesen steht ein bedeutender Wandel bevor – die Ambulantisierung. Während andere Länder bereits große Fortschritte gemacht haben, bleibt Deutschland weiterhin hinter seinen Möglichkeiten zurück. Prof. Dr. Jan-Marc Hodek, Studiengangsleiter Gesundheitsökonomie an der RWU (Hochschule Ravensburg Weingarten), Autor des Buches „Das deutsche Gesundheitssystem für Dummies“ und früher einmal Referent im Bundesministerium für Gesundheit, gibt im Interview Einblicke in die Gründe für diese Entwicklung, die damit verbundenen Herausforderungen und die Chancen für eine effizientere Versorgung.
Mit seiner langjährigen Erfahrung in den Bereichen Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik erklärt Prof. Hodek, warum ein Umdenken notwendig ist und welche Maßnahmen jetzt gefragt sind, um das volle Potenzial der Ambulantisierung zu heben. Lesen Sie im Folgenden, welche Perspektiven und Empfehlungen er für die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens hat und wie Kliniken sich auf die neuen Anforderungen einstellen können.
Leon Ebner: „Wie schätzen Sie die aktuelle Situation des deutschen Gesundheitswesens ein? Welche Herausforderungen sehen Sie momentan?“
Prof. Dr. Jan-Marc Hodek: „Ich will voranstellen: Deutschland hat ein gutes Gesundheitssystem. Sicher aber nicht „das beste der Welt“, wie ich manchmal lese oder höre. Auch ist festzustellen, dass es im deutschen Gesundheitssystem nicht grundsätzlich an Geld oder Personal mangelt: Mit fast 500 Mrd. Euro pro Jahr bzw. ca. 13% unseres BIP sind wir international weit oben dabei. Wir haben aber ganz sicher noch große Verbesserungspotenziale bei der Effizienz im Umgang mit unseren Ressourcen. Diese zu heben wird eine große Herausforderung der nächsten Jahre sein, um das System qualitativ zu verbessern und gleichzeitig bezahlbar zu halten.
Ein Beispiel: Aus Sicht der gesundheitsökonomischen Kosten-Nutzen-Betrachtung steht außer Frage, dass wir in Deutschland zu viele stationäre Krankenhausbetten haben, weit mehr als in den Ländern um uns herum. Im Vergleich zu den Niederlanden sind es bspw. mehr als doppelt so viele, wenn man es auf die Bevölkerungsgröße bezieht. Auch die Personalausstattung ist nicht so schlecht wie viele meinen. Deutschland steht bei der Zahl der Ärzte pro Einwohner auf Platz fünf und bei den Pflegekräften auf Platz acht. Und trotzdem kommen hier keine besseren Ergebnisse heraus, wenn man sich etwa die Überlebensraten nach Herzinfarkten oder Krebserkrankungen anschaut. Auch die Lebenserwartung ist in vielen anderen Ländern höher.
Die Ressourcen müssen effizienter eingesetzt werden. Und hier sind wir dann auch direkt beim Thema der ambulanten Potenziale.“
Leon Ebner: „Warum hinkt Deutschland bei der Ambulantisierung hinterher, während andere Länder bereits deutlich höhere Anteile ambulanter Eingriffe aufweisen?“
Prof. Dr. Jan-Marc Hodek: „Statistisch gesehen werden bei uns pro Jahr 218 von 1000 Menschen stationär im Krankenhaus behandelt. Das ist im internationalen Vergleich ein extrem hoher Wert. Im Durchschnitt der OECD sind es nur 130 Klinikaufenthalte und die Niederlande etwa liegen bei 80. Viele Fälle, die wir stationär behandeln, werden in anderen Ländern schon länger ambulant betreut. Wir haben in Deutschland große ambulante Potenziale, die derzeit jedoch bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Es bietet sich hier die Chance, eine mindestens gleich gute Gesundheitsversorgung zu geringeren Kosten zu organisieren. Das wäre hoch kosteneffizient.
Ich sehe hierfür zwei Hauptursachen: Erstens haben wir historisch gewachsen viele Krankenhäuser und -betten. Diese sind nun einmal da und werden auch genutzt. Für Patienten ist es normal, dass man für eine Operation im Krankenhaus stationär aufgenommen wird. Und für die Krankenhäuser ist es normal und lohnenswert, die vorhandene Infrastruktur auch zu nutzen.“
Leon Ebner: „Welche Maßnahmen müssten politisch umgesetzt werden, um ambulante Leistungen für Kliniken attraktiver zu machen?“
Prof. Dr. Jan-Marc Hodek: „Für Ökonomen liegt die Lösung immer in den Anreizen: Durch die aktuelle Vergütungsstruktur und die geringe Bettenauslastung ist es für die Kliniken attraktiver, möglichst viele Fälle stationär zu behandeln. Stationäre Vergütungen vergleichbarer Fälle sind teilweise zwei-, drei- oder vierfach höher. Es sollten also andere Vergütungsanreize gesetzt werden. Es muss sich für eine Klinik wirtschaftlich lohnen, eine Behandlung ambulant durchzuführen. Aufgabe der Gesundheitspolitik ist es, ein einheitliches Vergütungssystem zu entwickeln, in welchem nur die Fallschwere und nicht der Ort einer Leistungserbringung oder der Ursprungssektor des Durchführenden die Vergütung bestimmt. Krankenhäuser werden die Potenziale ambulanter Leistungserbringung heben, sofern ihnen dieser Weg erstens erlaubt ist und zweitens betriebswirtschaftlich lukrativ erscheint. Hierfür müssen die erzielbaren Deckungsbeiträge aus ambulanter Operation mindestens denen vergleichbarer stationärer Behandlungen entsprechen.
Ein konkretes Beispiel: In Deutschland werden rund 85 Prozent der Leistenbruch-Operationen stationär im Krankenhaus vorgenommen und nur 15 Prozent ambulant. In den Niederlanden ist es in etwa umgekehrt. Ähnlich sieht es in Schweden, Spanien oder in Dänemark aus. Etliche Länder, die ebenfalls eine relativ alte Bevölkerung haben, machen uns vor, dass Eingriffe ohne Qualitätsverlust ambulant möglich sind. Für diese Unterschiede zwischen den Ländern gibt es keine medizinischen Ursachen, sondern es liegt an den rechtlich-finanziellen Rahmenbedingungen, die der Staat setzen kann.“
Leon Ebner: „Wie können Kliniken wirtschaftlich erfolgreich ambulante Leistungen anbieten, trotz der oft niedrigeren Vergütung?“
Prof. Dr. Jan-Marc Hodek: „Fast 50 Prozent der Fälle – das sind rund 8 Mio. Patienten jährlich – sind maximal drei Tage im Krankenhaus. Das sind genau die Fälle, von denen viele ambulant versorgt werden könnten. Das zeigt zunächst einmal das Potenzial, auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht für die Kliniken. Dazu im Kontrast steht allerdings die aktuelle Umsatzrelevanz für ein durchschnittliches Krankenhaus. So machen die Erlöse ambulanter Leistungen derzeit in einem durchschnittlichen Krankenhaus nur niedrige einstellige Anteile des Gesamtumsatzes aus.
Betriebswirtschaftlich ist außerdem wichtig, eine kosteneffiziente Organisationsform zu finden und Prozessabläufe hieran auszurichten. Um ambulantes Operieren kostendeckend durchführen zu können, ist es notwendig, diese leichteren Fälle mit einem schlankeren Personalschlüssel zu betreuen, als es im stationären Betrieb üblich wäre. Oftmals sind hierfür abgetrennte Räumlichkeiten nötig, um so die Raumkosten und Wegezeiten pro Fall zu minimieren. Im Fall einer zunehmenden Zahl ambulanter Operationsfälle im Krankenhaus könnte es deswegen sinnvoll sein, diese vom stationären Bereich zu trennen, um in separaten Strukturen die Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Leistungserbringung zu schaffen.“
Leon Ebner: „Was erwarten Sie für die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens in den nächsten zehn Jahren?“
Prof. Dr. Jan-Marc Hodek: „Das System wird mit Sicherheit digitaler, ambulanter und konzentrierter sein – wahrscheinlich auch teurer als heute und hoffentlich etwas nachhaltiger.
Wir müssen komplexe Behandlungen an den Standorten konzentrieren, die über die entsprechende Expertise verfügen. Qualität geht vor Nähe, vor allem bei diesen schweren Fällen. Parallel dazu müssen aber für die leichteren Fälle mehr dezentrale und ambulant geprägte Strukturen erschaffen werden. Insbesondere dort, wo künftig vielleicht kein Krankenhaus im klassischen Sinne mehr steht. Dort sollten ambulante Auffangstrukturen geschaffen werden – etwa in Form medizinischer Versorgungszentren oder ambulanter OP-Zentren.“
Leon Ebner: „Welche Ratschläge würden Sie jungen Fachkräften geben, die eine Karriere im Gesundheitswesen anstreben?“
Prof. Dr. Jan-Marc Hodek: „Ich kann eine Karriere im Gesundheitswesen sehr empfehlen: Der Gesundheitsmarkt ist eine Stabilitäts- und Wachstumsbranche in Deutschland und bietet neben vielfältigen Karriereperspektiven auch sehr sichere Arbeitsplätze. Die inzwischen mehr als 6 Mio. Beschäftigten werden zukünftig noch mehr gefragt sein.
Ganz konkret zwei Tipps: Erstens ist die Bedeutung von Grundlagenwissen in Studium oder Ausbildung nicht zu vernachlässigen. Das ist die allerwichtigste Basis, auf der dann alles Weitere fußt.
Und zweitens der Faktor Beziehungen: Fangen Sie früh an, ein Netzwerk an interessanten Personen und Unternehmen aufbauen. Gehen Sie raus auf Tagungen, machen Praktika und pflegen Sie Ihre digitalen Profile. Irgendwann wird es sich auszahlen.“
Leon Ebner: „Vielen Dank für das interessante Interview und Ihre ausführlichen Antworten, Herr Prof. Dr. Hodek.“
Dieses Interview führte Leon Ebner, Junior Analyst der RINKE+HENSSLER GmbH.
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